REMOTEWORDS: Du hast ein Zitat von Vilém Flusser für die Universität von São Paulo – Flussers ehemalige Lehrstätte – ausgesucht. In den 80 Jahren hast du Flussers Vorlesungen in São Paulo nicht nur gehört, sondern damals schon mit dem Kassettenrekorder mitgeschnitten; heute ist dies wertvolles Archivmaterial. Wie hat das persönliche Kennenlernen der Person Vilém Flusser, durch dessen Empfehlungsschreiben du in den 90 Jahren nach Deutschland kamst, dein künstlerisches Denken beeinflusst?
Mario Ramiro: Ich habe Flusser in der Abteilung der bildenden Kunst kennen gelernt, nicht etwa in der philosophischen Fakultät. Er war zu einem Gastvortrag eingeladen, denn er hatte schon damals sehr enge Kontakte zu Künstlern und Kunstwissenschaftlern. 1982 gab es die erste wichtige Medienkunstausstellung in São Paulo und 1985 erschien „Für eine Philosophie der Fotografie“. Die Aktivitäten der Kunst in São Paulo und die Entwicklung seiner Medientheorie sind eng miteinander verwebt. Sicherlich ein Grund für die spätere starke Verbreitung seiner Theorien in der Kunst. Schon 1969 hatte Flusser einen Vortrag am Goethe Institut über den „philosophischen Aspekt der Automatisierung“ gehalten und 1976 am selben Institut über die „technische Imagination“ gesprochen. Übrigens hatte Flusser witzigerweise in den 50er Jahren einen kleinen Laden für elektronische Teile in São Paulo.
Was mich persönlich betrifft, hatten Flussers Theorien Anfang der 80er Jahre eine starken Einfluss auf mich. Er sprach über die technischen Mittel, die kein Material mehr erzeugen, sondern nur noch Information. 1972 schlug er auch eine „immaterielle Version“ der Biennale von São Paulo vor.
Meine Arbeit wandelte sich: Bildhauer und Malerei wurden uninteressant, statt dessen arbeite ich mit Telekommunikation: Fax, Videotext, Radio, Anrufbeantworter. Damals schon, weit vor dem Internet, befasste sich Flusser intensiv mit den Aspekten der technischen Vernetzung. 1986 haben wir beispielsweise eine auf Satelliten basierte Vernetzung zwischen dem M.I.T. und der São Paulo University gemacht. 1983 haben wir eine dreiminütige Aktion mit dem Titel „Clones“ durchgeführt, bei der das gleiche Objekt, eine gerade Linie, in drei verschiedenen Medien zu übertragen wurde: Radio, Fernsehen und Videotext. Hierzu haben wir einen Fernseh- mit einem Radiosender verschalten müssen. Was blieb, war der Zweifel, wie man eine gerade Linie im Radio übertragen kann.
http://leonardo.info/isast/spec.projects/ramiro/ramiro.html
REMOTEWORDS: N Du hast ein frühes Zitat ausgesucht, dass dem 1962 in portugiesisch geschriebenen Buch „Da Duvida“ (Vom Zweifel) (1) entnommen ist. Da du selbst als Professor und Künstler intensive Auseinadersetzung mit den sogenannten Neuen Medien betreibst, hätte man vermuten können, dass du etwas aus „Philosophie der Photographie“ (5) oder „Ins Universum der technischen Bilder“ (6) aussuchen würdest. Warum hast du „Por que duvido?“ (Warum zweifle ich?) (2) ausgesucht?
Mario Ramiro: Ich glaube, daß der Zweifel die Grundlage der Kunst ist oder zumindest sein sollte. Aber nicht nur der bildenden Kunst, sondern aller Sparten des kulturellen Ausdruckes. Wir haben ja mit unserer Nachricht auch drei Institute der Universität verbunden: Theater, Musik und eben die Abteilung der bildenden Kunst. Der künstlerische Zweifel ist Teil der, wie ich finde, sehr gesunden volatilen Bewegung zwischen Affirmation und (Selbst)-Zweifel.
Darüber hinaus ist der Zweifel Vorraussetzung für die Natur- und die Geisteswissenschaft. Zweifel trieb den Philosophen Vilem Flusser. Er ist sozusagen die Grundlage aller menschlichen Errungenschaft. Wer nicht zweifelt oder neugierig ist, wird immer ausgetretene Pfade gehen. Deshalb finde ich die Nachricht auch so passend für eine Universität. Für mich besteht die Aufgabe einer Universität vor allem darin Fragen zu stellen und nicht Antworten zu rezitieren. Zum Beispiel die Frage „Welche Beziehung besteht zwischen Vergangenheit und Gegenwart?“
REMOTEWORDS: Damit sprichst du ein Problem an, das Flusser bereits in den 80 Jahren als Aspekt der digitalen Revolution voraussah. Was die Kanäle der digitalen Information betrifft müssten wir vielleicht eher fragen: Warum zweifle ich nicht? Flusser spricht hier „vom Ende der Geschichte“. Diese zeigt sich vielleicht tatsächlich in Musik und Kunst als Sampling und Recycling. Sind wir nicht mehr neugierig?
Mario Ramiro: Das ist ein Phänomen der digitalen Revolution. Die Quellen werden sicherlich zu wenig bezweifelt, aber vor allem stellen sie immer mehr die ausschließliche Informationsquelle dar. Die Welt besteht aus weit mehr als das, was die Suchmaschinen uns bieten.
REMOTEWORDS: Wie zum Beispiel die Geister? Du hast über „Geisterfotografie“ promoviert, eine Art von Fotografie, die „Gläubige“ und „Zweifler“ in zwei Lager teilt. Dem steht der fotografische Dokumentarismus, der von Deutschland ausgehend vor allem durch die Becher Schule geprägt wurde, diametral gegenüber. Wir haben beide diese Euphorie nie geteilt, bei der sozusagen „alle Zweifel ausgeräumt“ werden sollen, pure Affirmation betrieben wird. Was fasziniert dich an der Geisterfotografie, macht sie der Zweifel so spannend? Oder, um mit Flusser zu sprechen „Woran zweifle ich?“ (3) An fotografischer Authentizität? Oder „Am Zweifel an der Authentizität des Zweifels?“ (4)
Mario Ramiro: Entgegen der allgemeinen Ansicht hat Flusser einmal gesagt, dass die Spiritisten die eigentlichen Materialisten sind, denn sie versuchen Geist zu materialisieren. Die Geisterfotografie will Geistiges sichtbar machen, zum Beispiel durch die fotografische Darstellung des Auswurfes von Ektoplasma oder den Versuchen in totaler Dunkelheit zu fotografieren. Die Geisterfotografen eliminieren das Licht um den „Spirit“ fotografisch einzufangen.
Interessanterweise tauchen die ersten Worte auf Fotografien im Bereich der – wie die Franzosen sagen – „transzendentalen Fotografie“ auf. Bereits 1874 erstelle Edouard Buguet ein Bild, auf dem der Geist Alan Kardecs, der Begründer des Spiritismus in Frankreich, zu sehen ist. Man sieht ihn dort zusammen mit seiner Witwe und einer Nachricht aus dem Jenseits. Hier sehe ich übrigens einen Zusammenhang zum Projekt REMOTEWORDS, das Sprache stark materialisiert: Worte, Architektur, Raum und Landschaft verbinden sich. Ein plötzliches Auftauchen von Nachrichten in der Landschaft.
Was fotografische Authentizität und Geister betrifft ist es sehr interessant, dass einige Fotos ganz klar gefälscht sind, bei anderen weiß man bis heute nicht, wie sie entstanden sind. Vielleicht machen die Becher Schüler ja eher „Beweisfotos“, während einige Geisterfotografen eher konzeptuell arbeiten. Flusser sah Fotografie als Materialisierung eines Konzeptes, so wie es auch die inszenierte Kunstfotografie betreibt und eben solche wird auch in der Geisterfotografie praktiziert.
Ich habe jedenfalls einige Zweifel an Fotografien die Wahrheit bezeugen wollen, gerade weil der Zweifel hier so weit weg geschoben ist. Hier muss ich an Flussers Appell denken, am besten beim Fotografieren das fotografische Programm außer Acht zu lassen. Das Programm, welches dazu führen soll, dass das Foto das „Gleiche“ zeigt wie die fotografierte Realität. Er erinnert uns: „Ein Foto ist eben ein Phänomen, das ein anderes bedeutet“
(1-4) Vilem Flusser: „Vom Zweifel“, Edition Flusser, European Photography, 2006, Hrsg.: Andreas Müller Pohle
(5) „Ins Universum der technischen Bilder“, European Photography, 1985, Hrsg. : Andreas Müller Pohle
(6) „Für eine Philosophie der Fotografie“, European Photography, 1983, Hrsg.: Andreas Müller Pohle
Zitat und Auszug mit freundlicher Genehmigung von European Photography & Andreas Müller Pohle.
http://www.european-photography.com/